Oftmals werde ich gefragt: „Wie kann ich loslassen lernen?“ Man findet dazu in Büchern und im Internet zahlreiche und auch nützliche Tipps. In diesem Beitrag möchte ich den Blick auf einen Aspekt lenken, der dabei oft übersehen wird. Vielleicht ist gerade der es, der Ihnen gefehlt hat? Vielleicht können Sie dann etwas leichter erreichen, was Sie wirklich wollen?
Ein Anteil in uns will loslassen, ein anderer festhalten
Loslassen lernen ist immer dann Thema, wenn man merkt, dass man an etwas festhält, was einen in Wahrheit belastet.
Das kann eine schlechte Erfahrung sein, die man immer und immer wieder im Kopf kreisen lässt. Es kann auch eine schlechte Angewohnheit sein, von der man nicht lassen kann. Manchen Menschen fällt es auch schwer, sich von nutzlosen Sachen zu trennen, die ihre Schränke verstopfen. Andere verharren sogar in einer kaputten Beziehung oder an einem Arbeitsplatz, der sie schon lange auslaugt.
Etwas zu lassen ist manchmal schwerer als etwas zu tun. Wenn sich jemand mit dem Loslassen plagt, dann erlebt er meist „zwei Seelen in seiner Brust“. Man könnte auch sagen, es kämpfen Verstand und Gefühl gegeneinander. Der Verstand sagt in etwa: „Du musst loslassen!“ Das Gefühl dagegen signalisiert: „Ja ich weiß, aber …“ Wer von beiden siegt?
Genau, man bleibt in der Regel im vertrauten Gefühl. Denn alles, was man fühlt, erscheint einem wahr. Daher glaubt man dem Gefühl und hängt daran fest.
Es gibt zahlreiche Gründe dafür, warum das so ist. Dazu mehr in meinen anderen Beiträgen, z.B. in Wie belastende Gedanken leichter werden oder Lösen aus dem Sog einer Gewohnheit. Hier möchte ich einen Aspekt hervorheben, der einem nicht sofort in den Sinn kommt, wenn man etwas loszulassen versucht.
Loslassen, aber was kommt dann?
Schauen Sie sich bitte das Bild hier im Beitrag mal an. Es ist da ein Seil zu sehen, das vermutlich ein Boot festhält. Das ist mit einem sogenannten Seemannsknoten angebunden. Dieser Knoten hält das Boot absolut sicher, löst sich aber komplett auf, wenn man das Seil an der richtigen Stelle etwas lockert.
Man käme nicht auf die Idee, das Seil zu lösen, ohne die Absicht zu haben, ins Boot zu steigen und damit irgendwohin zu fahren. Würde man es dennoch tun, dann würde das Boot führerlos davongetragen werden.
Es ergibt also nur dann Sinn, das Boot loszumachen, wenn man fahren möchte und auch weiß, wohin! Das ist der entscheidende Punkt. Man muss ein Ziel vor Augen haben.
Die meisten, die an etwas festhängen, beschäftigen sich viel zu sehr mit dem Knoten. Das vereinnahmt sie so sehr, dass sie sich gar nicht fragen, wohin ihre Reise eigentlich gehen soll. Und so bleibt das Boot am Kai festgebunden. Das ist vertraut und gibt einem ein Gefühl von Sicherheit. Mit der Zeit setzen sich am Bootsrumpf aber Algen fest. Man wird immer unbeweglicher und unzufriedener.
Wenn Sie es also schaffen wollen, etwas loszulassen, dann brauchen Sie sich nicht noch mehr als bisher mit dem Knoten zu beschäftigen! Es ist hilfreicher, sich zu fragen, was Ihr eigentliches Ziel dabei ist und warum Sie dort sein wollen.
„Loslassen“ an sich ist noch kein Ziel. Dabei blicken Sie nämlich nach hinten, also in die Vergangenheit. Sie verknoten sich dadurch immer mehr und verlieren Ihre Wünsche und Bedürfnisse ganz aus dem Blick. Sie müssen also zunächst herausfinden, wohin Sie wollen beziehungsweise wofür Sie etwas loslassen wollen.
Was will ich? Was sind meine Ziele?
Ich weiß, dass diese Frage für viele gar nicht so einfach ist, wie sie klingt. Wenn überhaupt, dann sind wir es ja eher gewohnt, uns mit unseren „Verknotungen“ zu beschäftigen oder mit dem Entfernen der „Algen“.
Ein Klient von mir konnte sich viele Jahre nicht von einem für ihn schlechten Arbeitsplatz lösen. Er hat das die ganze Zeit mit allen möglichen Argumenten zu begründen versucht bis er dann wegen Burnout krankgeschrieben werden musste. Bis dahin hatte er sich einfach nie gefragt, was er wirklich gut kann. Er hat somit auch nicht überlegt, an welchem Arbeitsplatz er das besser zum Einsatz bringen und sich voll entwickeln könnte. Als ihm während der Beratung klar wurde, wie er leben und arbeiten wollte, war zu kündigen nicht nur kein Problem mehr für ihn. Er hat es als lange überfällige Befreiung erlebt. Schließlich hatte er sogar die Auswahl zwischen zwei vielversprechenden neuen Stellen.
Das heißt, man kommt nicht um die Frage herum, was man eigentlich will und sich ersehnt. Das gilt für große Themen im Leben, wie bei diesem Mann, aber auch für die vielen kleinen, alltäglichen. „Weg vom Knoten hin zum Reiseziel!“ ist ein sehr hilfreiches Prinzip. Dann löst sich viel leichter auf, was vorher als fest und starr wahrgenommen wurde.
Eine kleine Übung
Wenn Sie das für sich umsetzen wollen, ein Vorschlag, wie es gehen könnte:
Schritt 1: Mein Ziel
Statt sich in gewohnter Weise mit dem zu beschäftigen, wovon Sie sich lösen wollen, nehmen Sie sich ein wenig Zeit und fragen Sie sich: Was will ich stattdessen? Was genau brauche ich, um mich gut zu fühlen? Wonach sehne ich mich eigentlich?
Es hat sich übrigens als hilfreich erwiesen, die Antworten aufzuschreiben. Dadurch zwingen wir uns, klarer zu denken und zu formulieren.
Schritt 2: Meine ersehnten Gefühle
Fragen Sie sich anschließend: Wie werde ich mich dann fühlen, wenn ich das, was ich mir wünsche, erreicht habe? Vielleicht fröhlich, entspannt, motiviert, glücklich, stolz, erleichtert? Schreiben Sie auch das auf und nehmen Sie sich Zeit für die Antworten. Diese Frage haben Sie sich so vermutlich noch nie gestellt.
Schritt 3: Den Zielzustand jetzt erleben
Schließen Sie dann für eine Weile die Augen und versetzen sie sich voll und ganz in den Zielzustand hinein. Lassen Sie dabei all die Gefühle entstehen, die Sie aufgeschrieben haben. Und genießen Sie sie. Erleben Sie alles so, als seien Sie bereits im Ziel.
Die Gefühle sind es, die Sie zum Ziel hinziehen werden! Wiederholen Sie diesen letzten Schritt daher im Alltag so oft wie möglich.
Vielleicht wird es Ihnen dann so gehen wie meinem Klienten und etwas loszulassen wird kein so großes Thema mehr sein. Ihre Alternative wird sich viel zu schön anfühlen, als dass Sie noch lange drauf verzichten wollten.

Dipl.-Psych. Anna-Maria Steyer, Beraterin, Trainerin und Supervisorin inspiriert ihre Klienten und Kunden, innere Leichtigkeit wiederzuentdecken und kraftvolle Lösungen in schwierigen Situationen zu finden