In der Gegenwart bleiben, weniger Stress haben
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In der Gegenwart bleiben, weniger Stress haben

Stress ist inzwischen vom Ausnahmephänomen zur Normalität im Alltag geworden. Viele kommen auch zwischen verschiedenen Arbeitsphasen nicht mehr zur Ruhe. Der empfundene Druck, ständig noch etwas erledigen zu müssen, hält den Stresspegel hoch. Wie man einen Ausweg findet, beschreibe ich im Folgenden.

Aktiv sein ist „trendy“

Unser Alltag ist zum einen sehr komplex geworden. Zum anderen steht uns auch ein endloses Angebot an Möglichkeiten bereit, immer aktiv zu sein. Man kann sich immer noch mehr informieren, noch mehr einbringen, seine Kinder noch mehr fördern, seine Ernährung weiter optimieren, sich noch besser vernetzen usw.

Aktiv zu sein hat auch einen hohen gesellschaftlichen Wert. Dagegen wirkt es wie aus der Zeit gefallen, wenn jemand versucht, Dinge sich entwickeln zu lassen, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten oder etwas mit Muße tun zu wollen.

Es überrascht daher nicht, dass Daueranspannung und Stress weit verbreitet sind, besonders bei Berufstätigen mit Kindern.

Stress kommt nicht von außen

Oft wird mit Stress die Situation beschrieben, in der man sich befindet und starken Druck wahrnimmt („Ich muss noch so viel tun; bin total im Stress.“).

Doch Stress ist nichts Äußeres. Er ist eine Reaktion im Körper auf die Wahrnehmung einer Gefahr. Diese ist selten real, sondern besteht meistens aus stressenden Gedanken. In Bezug auf Arbeit und Alltag sind es häufig Sorgen, dass man eigenen Ansprüchen oder denen Anderer nicht gerecht wird oder dass Schlimmes passiert, wenn man nicht aktiv ist.

Solche Gedanken reichen aus, um über eine Kettenreaktion im Körper die Ausschüttung von Adrenalin auszulösen (s.a. Ein kurzer Weg zu innerer Stille). Dieses Hormon dient dazu, dass wir körperlich aktiv werden, um die Gefahr abzuwenden. Ist Adrenalin lange im Blut, dann befinden wir uns unter Dauerspannung und sind zu Aktivität geradezu gezwungen – aber von innen her! Wir projizieren dieses Gefühl lediglich nach außen.

Wenn Gedanken in die Zukunft eilen

In früheren Beiträgen habe ich verschiedene Techniken vorgestellt, wie man z.B. durch Atmung, durch Visualisierung, durch eine Kurzmeditation oder mit der Bodyscan-Technik den Stresspegel herunterregeln und innerlich ruhiger werden kann.

Diese Techniken setzen an unterschiedlichen Stellen der Stressreaktion an. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auch den Fluss der Gedanken unterbrechen, die dauernd in die Zukunft eilen.

Die vielen Gedanken, die wir uns machen, ziehen uns nämlich fort aus dem gegenwärtigen Moment. Wir sind dann nicht bei der Sache, sondern gedanklich schon bei der nächsten und übernächsten. Dadurch sehen wir ständig einen Berg an Erledigungen vor uns, unabhängig davon, wieviel wir gerade machen.

Für eine dauerhafte Stressreduktion ist es daher unerlässlich, zu lernen, wie man Stress in Gedanken gar nicht erst zulässt. Dazu gehört zum einen, die eigenen Ansprüche und die Vorstellung von den Ansprüchen Anderer kritisch zu hinterfragen (dazu in einem späteren Beitrag mehr). Zum anderen bedeutet es auch, die Fähigkeit zu entwickeln, gedanklich bei der Tätigkeit zu bleiben, die man gerade ausführt.

Ist „Multitasking“ eine Superfähigkeit?

Früher, als das sogenannte Multitasking noch nicht als schicke Superfähigkeit galt, sagten die Leute, um sich nicht stressen zu lassen: „Eins nach dem anderen!“ Sie konzentrierten sich dann auf die Aufgabe, mit der sie gerade befasst waren. Erst als diese fertig war, widmeten sie sich der nächsten.

„Multitasking“, also das Erledigen mehrerer Aufgaben gleichzeitig, ist neurobiologisch gar nicht möglich. Wie Forschungsergebnisse zeigen, wechselt das Gehirn lediglich ganz schnell zwischen den Aufgaben hin und her. Das macht nicht nur zusätzlich Stress, es führt auch zu schlechteren Resultaten.

Meistens wird dann das Argument der Zeit angeführt, die so knapp und daher so kostbar sei. Doch „Zeit ist überhaupt nicht kostbar, denn sie ist eine Illusion. Was dir so kostbar erscheint, ist nicht die Zeit, sondern der einzige Punkt, der außerhalb der Zeit liegt: Das Jetzt!“ (Eckart Tolle in „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“).

Eins nach dem anderen: Ohne Stress im gegenwärtigen Moment

Ein Klient, mit dem ich erörtert habe, wie er „in der Gegenwart bleiben“ für sich umsetzen könnte, hatte auf einmal ein klares Bild vor Augen. Er erklärte amüsiert: „Ich mache es künftig wie mit den Nummernzetteln, die man zieht, wenn man irgendwo warten muss, bis die Nummer aufgerufen wird. Ich übe jetzt, mich nur noch auf die aktuelle Tätigkeit zu konzentrieren. Die sich aufdrängenden Gedanken an andere Pflichten oder Vorhaben kommen in die Warteschlange und werden bearbeitet, wenn sie an der Reihe sind.“

Ich dachte spontan: „Das ist eine richtig gute mentale Technik!“ und musste lachen, als ich mir das bildlich vorstellte. Neben dem bekannten Vergeben von Prioritäten kommt hier noch hinzu, dass man in der Gegenwart bleibt und der Druck wegfällt, der durch ständiges Denken an noch nicht Erledigtes entsteht.

Der Klient ergänzte dann noch: „Und ich achte ab jetzt auch auf mich, statt immer auf die Zeit zu schauen, mich anzutreiben und dann ständig unzufrieden zu sein.“

Zufriedenheit kann übrigens erst dann entstehen, wenn man sich nach einer Erledigung einen Moment sammelt, statt sofort zur nächsten Aufgabe zu hetzen. Dadurch bekommt man Gelegenheit, über das Ergebnis Freude zu empfinden.

Wenn wir auf diese Weise Verantwortung für das übernehmen, was wir in Gedanken tun, hat der Körper keinen Grund mehr, in einen Stresszustand zu gehen. Und wenn noch ein Augenzwinkern dazu kommt, wie bei dieser kleinen Technik, dann kann es durchaus passieren, dass man sogar noch an etwas Freude gewinnt, was vorher nur als lästige Pflicht wahrgenommen wurde.

 

Dipl.-Psych. Anna-Maria Steyer, Beraterin, Trainerin und Supervisorin inspiriert ihre Klienten und Kunden, innere Leichtigkeit wiederzuentdecken und kraftvolle Lösungen in schwierigen Situationen zu finden